Allgemein China

«Damit der Dalai Lama seine Fehler einsieht» – Gespräch mit dem chinesischen Dialogpartner der Tibeter

Neue Zürcher Zeitung, 4.11.13, Beat U. Wieser –
Zhu Weiqun hat den zum Stillstand gekommenen Dialog Pekings mit den Vertretern des Dalai Lama massgeblich geprägt. Im Gespräch lässt er kaum Raum für eine Autonomie Tibets.

Zhu-Weiqun-LodiGyari

Im Gespräch mit chinesischen Funktionären beisst man nicht selten auf Granit, wenn man ihre Sicht nicht teilt. Bei Zhu Weiqun, dem Mann, der den Dialog mit den Vertretern des Dalai Lama geführt hat, ist es anders. Ruhig und mit leisem Lächeln weicht er jeder zupackenden Frage oder Bemerkung aus, indem er, statt darauf einzugehen, ohne Unterlass Pirouetten um seine eigene Meinung dreht, als wäre niemand da, der ihm widerspräche. Jeder Einwand prallt ab an diesem Solotänzer, der nur das hört, was seinem Tanz Schwung verleiht.

Religionsfreiheit und -verbot

Das Gespräch mit Zhu und seiner Entourage, zu der auch ein lebender Buddha aus Gansu gehört, findet im Berner Hotel Bellevue Palace statt. Der 66-Jährige hat die vor drei Jahren zum Stillstand gekommenen Gespräche mit Lodi Gyari und Kelsang Gyaltsen, den Vertretern des Dalai Lama, geprägt. Er war damals Vizeminister der Einheitsfront im Zentralkomitee der Kommunistischen Partei. Heute leitet er das Subkomitee für ethnische und religiöse Angelegenheiten in der Politischen Konsultativkonferenz, der zweiten Kammer neben dem Volkskongress. Er ist also der Mann, der in Religions- und Minderheiten-Angelegenheiten Vorschläge zuhanden der Regierung macht.

Für Religion scheint er allerdings ziemlich wenig Verständnis zu haben. Sich selbst bezeichnet er als Materialisten im marxistischen Sinn und betrachtet seinen Atheismus als Vorteil bei der Ausübung seiner Funktion. Weil er nicht gläubig sei, komme er nie in den Verdacht, die eine oder die andere Religion zu bevorteilen, meint er verschmitzt. Am liebsten würde er aber offenbar alle Religionen zurückbinden, obwohl er betont, wie sehr in China die Religionsfreiheit praktiziert werde. Generell plädiert er dafür, die 100 Millionen Gläubigen in China – eine offizielle Zahl, die wohl viel zu niedrig angesetzt ist – stärker an die Partei anzubinden. Für die Parteimitglieder hält er ein Religionsverbot als angemessen. Die Parteimitgliedschaft sei unvereinbar mit der Zugehörigkeit zu einer Konfession, bringt es Zhu auf den Punkt, um dann gleich nochmals ganz unbeschwert Chinas Religionsfreiheit zu loben.

Es fällt nicht leicht, solchen Widersprüchen zu folgen. Doch Zhu lässt einem keine Wahl. Er kommt auf die verschiedenen Ethnien in China zu sprechen und weist darauf hin, dass nach dem Gesetz alle Nationalitäten gleichberechtigt seien. Auf dem Fusse folgt aber das Plädoyer für die nationale Einheit, die es in allererster Linie zu erhalten und zu fördern gelte. Man solle die Differenzen zwischen den Ethnien nicht übermässig betonen, meint Zhu. Vielmehr sei es beispielsweise notwendig, Chinesisch als nationale Sprache und Schrift im ganzen Land zu verbreiten.

Fusion der Ethnien

Zhu hat im Februar letzten Jahres in einem Aufsatz für eine «natürliche Fusion aller Nationalitäten» geworben und sich in diesem Zusammenhang für die Entfernung ethnischer Klassifizierungen aus Pässen und Personalausweisen ausgesprochen. Solche Massnahmen dienten sowohl «ethnischer Entwicklung und entsprechendem Fortschritt wie auch der Stärkung der Einheit der grösseren chinesischen Rasse», schrieb er. Den Einwand, dass das ein Widerspruch in sich selbst sei und «die natürliche Fusion von Nationalitäten» sich letztlich nur mit Gewalt verwirklichen lasse, nimmt er nicht zu Kenntnis.

Stattdessen kommt er unvermittelt auf den Dalai Lama, den «Spalter der nationalen Einheit Chinas », zu sprechen, der 1987 vor dem amerikanischen Senat dargelegt habe, dass aus einem autonomen Tibet alle Hanchinesen ausgewiesen würden. Dieser Hinweis lässt sich leicht entkräften, weil er nicht oder zumindest nicht mehr zutrifft und deshalb irreführend ist. Im Memorandum über eine Autonomie Tibets, das die Vertreter des Dalai Lama 2008 Zhu Weiqun auf dessen ausdrückliche Aufforderung hin vorgelegt haben, steht im Kapitel «Regulation der Migration »: «Es ist nicht unsere Absicht, Nichttibeter, die sich permanent in Tibet niedergelassen haben und dort für längere Zeit gelebt haben oder aufgewachsen sind, auszuweisen.»

Für einen Moment macht sich Unruhe breit in der chinesischen Delegation. Papiere werden aus Aktentaschen hervorgekramt und über Croissants, Lachs und Rührei auf dem Frühstückstisch hin und her gereicht. «Nun sind wir in den Dokumenten», lässt sich Zhu leicht zerknirscht vernehmen. Doch alsbald findet er seinen ganz eigenen Ausweg. «Der Dalai Lama hat den Satz von 1987 nie ausdrücklich zurückgezogen», erklärt er in abschliessendem Ton. Überdies habe es chinesischerseits nie einen Plan zur Umsiedlung von Hanchinesen nach Tibet gegeben. Die Migration, die stattgefunden habe, sei eine «marktwirtschaftliche Entwicklung und völlig normal».

Gesprächsfetzen aus Unterhaltungen mit Chinesen in Tibet im Jahr 1988 gehen einem durch den Kopf. Sie alle deuteten auf staatlichen Zwang und pekuniäre Lockvogelangebote hin. Kaum ein Chinese sah damals – noch vor der politischen Verhärtung im Zuge des Tiananmen-Massakers – seine persönliche Zukunft freiwillig in Tibet. Doch man verkneift sich eine Bemerkung. Zhu hat nämlich bereits damit begonnen, Zitate aus den ihm zugeschobenen Papieren vorzulesen. Sie alle sollen die «spalterische Natur der Dalai-Lama-Clique» belegen. Es sind aber bloss nicht überprüfbare Sätze aus verschiedenen Medien.

Wenn man sich die Mühe nimmt, die Gesprächsdokumente von 2008 und 2010 zu studieren, stellt man eine eklatante Differenz in Tonlage und Argumentation zwischen der tibetischen und der chinesischen Seite fest.Während die Vertreter des Dalai Lama Punkt für Punkt unter exakter Bezugnahme auf die Verfassung Chinas und das Gesetz über Regionale Nationale Autonomie ihre Vorstellungen einer tibetischen Selbstverwaltung im chinesischen Rahmen darlegen, wischt die chinesische Seite mit Pauschalvorwürfen alles vom Tisch, als ob sie die vorgelegten Texte gar nicht gelesen hätte.

Um Verzeihung bitten

Zhu erklärt, dass es nie darum gegangen sei, mit Lodi Gyari und Kelsang Gyaltsen über eine Autonomie zu verhandeln. Er habe sie nur deshalb aufgefordert, ein Autonomie-Papier zu erarbeiten, weil er testen wollte, ob die «Dalai-Lama-Clique» von ihrem Separatismus abgerückt sei und sich endlich der Sicht der chinesischen Regierung angenähert habe. Deutlicher lässt sich kaum ausdrücken, dass es keinen Raum für einen substanziellen Dialog zwischen Peking und den Tibetern gibt.

Lodi Gyari und Kelsang Gyaltsen sind inzwischen von ihren Funktionen als Gesprächspartner der Chinesen zurückgetreten, da sie derzeit kaum Chancen für Fortschritte sehen. Zhu meint allerdings, sie seien vom neu eingesetzten Premierminister der tibetischen Exilregierung, Lobsang Sangay, vertrieben worden, den er als noch grösseren Separatisten sieht und der seiner Meinung nach dem Dalai Lama schadet.

Die Unterhaltung dauert schon zwei Stunden, und Zhu Weiqun möchte nochmals sein Credo loswerden: «Wir wollen den Dalai Lama auf die patriotische Seite ziehen», erklärt er. «Wir führen keine Verhandlungen, sondern pflegen höchstens Kontakte mit dem Ziel, dass der Dalai Lama seine Fehler einsieht und eingesteht sowie um Verzeihung bittet. Wir werden nie mit ihm über seine separatistischen und verräterischen Ansichten verhandeln. Das Schicksal und die Zukunft Tibets liegen in der Hand der chinesischen Zentralregierung und nicht in derjenigen des Dalai Lama.»

Der Kaiser hat gesprochen, so kommt es einem vor. Die Delegation erhebt sich. Freundliches Händeschütteln – auch mit dem lebenden Buddha, dessen Gedanken hinter dem vergnügten Lächeln man gerne lesen würde. Die Gruppe zieht ab durch den prächtigen Speisesaal. Nach wenigen Minuten  kehrt ein chinesischer Diplomat mit einer alten Foto zurück, die Zhu einem überlassen möchte. Sie zeigt den 19-jährigen, etwas unsicher wirkenden Dalai Lama und Mao Zedong in scheinbarer Eintracht bei einem Empfang in Peking 1954. Damals hatte Peking das geistliche tibetische Oberhaupt noch unter Kontrolle und bedachte es mit dem Posten des stellvertretenden Vorsitzenden des ständigen Ausschusses des Volkskongresses. Möglicherweise trauert Zhu Weiqun jenen alten Zeiten nach.

Kasten:
Es gibt auch andere Meinungen zu Religionen und Minoritäten in China

Zhu Weiqun vertritt harte und unnachgiebige Positionen in Religionsund Minoritätenfragen. Inzwischen werden in China aber auch andere Meinungen geäussert. So hat Präsident Xi Jinping dazu aufgerufen, eine «materielle und geistige Zivilisation» aufzubauen. Traditionelle Kultur und Religion, wie Konfuzianismus, Buddhismus und Taoismus, sollen helfen, geistige Leere und moralischen Niedergang infolge des übersteigerten Materialismus zu bekämpfen. In der amtlichen Volkszeitung war ein Kommentar zu lesen, der dafür plädierte, Religionen gut zu behandeln und das Recht auf freie Religionsausübung besser zu schützen.

Auch in Minoritätsfragen gibt es unterschiedliche Meinungen. Die von Zhu Weiqun vertretene Linie der nationalen Einheitmöglichst ohne Sonderrechte für einzelne Gruppen stösst nicht zuletzt bei den Angehörigen des grossen Apparates der Minderheitenpolitik auf wenig Gegenliebe. Dabei geht es teils um grundsätzliche Fragen der Minderheitenrechte, teils aber auch um Jobs und Positionen auf dem grossen Feld der Nationalitätenpolitik.

Auch zum Dalai Lama gibt es divergierende Haltungen. Die parteioffizielle Verteufelung des geistigen Oberhaupts der Tibeter wird nicht von allen Han-Chinesen goutiert. Kürzlich hat sich sogar eine Professorin der Zentralen Parteischule für einen geschmeidigeren Umgang mit dem Dalai Lama ausgesprochen. Sie charakterisierte die vorwiegend spirituelle und weniger materialistische Identität der Tibeter treffend und forderte von der Partei mehr Verständnis dafür. Den Dalai Lama als Feind zu behandeln, wirke sich negativ auf die Gefühle von Tausenden und Abertausenden von Tibetern aus, sagte Professorin Jin Wei. Darauf angesprochen, ob das bloss ihre persönliche Meinung sei, sagte sie Ja. Die meisten ihrer Arbeitskollegen dächten aber ähnlich, getrauten sich jedoch nicht, es öffentlich zu sagen.

Jin Weis Äusserungen beschränkten sich auf Kultur und Religion. Das Thema der tibetischen Autonomie schnitt sie nicht an und empfahl auch, es bei allfälligen neuen Gesprächsrunden auszuklammern. Trotzdem klingt ihr Ansatz in tibetischen Ohren vielversprechend, weil er frei ist von all den Unterstellungen, mit denen Hardliner wie Zhu Weiqun operieren

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  1. Seitdem die Chinesen in den 50er-Jahren in Tibet einmarschierten, sind tausende Menschen aus dem Land im Himalaya geflohen. Pema Lamdark ist eine von ihnen. Bis heute kann sie die Bilder der beschwerlichen Flucht nicht vergessen. Pema Lamdark lebt mittlerweile mit ihrem Mann und ihren Kindern in der Schweiz. Die Sehnsucht nach der Heimat, die es so nicht mehr gibt, ist bei ihr und vielen Exiltibetern geblieben. Doch wie realistisch ist ihr Bild vom alten Tibet? Haben sich die Landsleute in der Heimat nicht längst mit der chinesischen Herrschaft arrangiert?

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