Mandalas

Der tibetische Buddhismus setzt in einer Intensität wie keine andere Form des Buddhismus und wie kaum eine andere Religion bildliche Darstellungen zur Vermittlung tiefster religiöser Wahrheiten ein. Die Figuren und Malereien geben jedoch das, was sie darstellen sollen, nur andeutungsweise wieder. Sie sind nur Aspekte des Absoluten und Spiegelungen, nicht jedoch das Absolute selbst in seiner ganzen Pracht und
Wonne. Das Absolute manifestiert sich vielmehr in jedem und allem, und Ziel jeder Bildmeditation, wie auch die Mandala-Meditation eine darstellt, ist es, dieses klar leuchtende Göttliche zu entdecken, ja es selbst zu verwirklichen und an ihm teilzuhaben. Dazu bedient sich die praktizierende Person besonderer Übungen, in denen sie sich läutert und ihr Bewusstsein dem göttlichen Ursprung näher bringt.

Als Hilfsmittel für Visualisationen dienen bildliche Darstellungen, man könnte sagen: Vor-Bilder – oder Idole, welche die meditierende Person vor sich aufstellt oder aufhängt. Ein besonderer Typus solcher Visualisationsbilder stellen die Mandalas dar.

Begriff

Schlägt man in Lexika den Begriff „Mandala“ nach, wird offensichtlich, wie schwierig es ist, in einer kurzen
Definition dem Mandala gerecht zu werden. Da ist von „magischem Kreis“ die Rede, von einem runden „rituell geometrischen „ oder „symbolischen Diagramm“, oder es heisst, das Mandala sei „typischerweise ein Kreis, der ein Quadrat einschliesst mit einem zentralen Symbol.“ Dann wiederum erscheinen Mandalas als „Symbole von kosmischen Kräften, die als Hilfsmittel zur Meditation benutzt werden“, als „Vorlagen für bestimmte Visualisierungen“, als „Hilfsmittel zu Selbstfindung oder auch zur Meditation über das Transzendente“.

Zweidimensionale Mandalas

Die zweidimensionalen Mandalas werden entweder auf einen Stoffgrund gemalt oder mit farbigem Pulver auf eine ebene Fläche gestreut. Letztere werden am Ende des entsprechenden Mandalarituals völlig zerstört,
während die gemalten Mandalas über längere Zeit hinweg aufbewahrt werden können.

 

Dadurch dass je zwei gegenüberliegende Eckpunkte des Quadrats durch eine Linie verbunden werden, entstehen vier gleich grosse Dreiecke, deren Spitzen sich in der Mitte des Mandalas berühren. Jedes Dreieck fällt mit einer Himmelsrichtung zusammen und weist eine ihm eigene Farbe auf. Normalerweise ist der Ostteil (der auf tibetischen Malereien stets dem Betrachter zugewandt ist) weiss, der Süden gelb, der Westen rot und der Norden grün, während der fünften Himmelsrichtung, der Mitte, die blaue Farbe zugeordnet ist. Die Mitte jeder der
vier Aussenseiten des Quadrats ist durch eine T-förmige Ausformung unterbrochen. Dabei handelt es sich um Eingangstore, denn das Quadrat im Mandala ist nichts anderes als ein Gebäude, beziehungsweise der Grundriss eines Palastes.

In der grossen Fülle von Mandalas gibt es auch solche, die statt der Gottheiten nur Symbole aufweisen, durch Punkte markiert sind, die Keimsilben der betreffenden Gottheiten enthalten oder gänzlich leer sind, was ein grösseres Vorstellungsvermögen vom Benutzer des betreffenden Mandala erfordert.

Symbolik

Die Zahl Fünf stellt in der Mandalasymbolik die weitaus wichtigste Zahl dar. Sie symbolisiert die vier Himmelsrichtungen Ost, Süd, West und Nord sowie als fünfte Richtung die Mitte. Die Fünf steht aber auch für die 5 Aggregate und 5 Elemente, aus denen nach buddhistischer Auffassung ein Wesen besteht. Sie steht ferner mit den 5 Weisheiten Buddhas in Beziehung, die durch je einen der 5 sogenannten Tathagata-Buddhas verkörpert werden.

Dreidimensionale  Mandalas

Ein Sutra nennt neben auf Stoff gemalten und aus farbigem Pulver gestreuten Mandalas auch Mandalas aus Gold, Silber, Muscheln, Steinen, Horn, Holz sowie Ton. In der Tat lassen sich an verschiedenen Orten im Verbreitungsgebiet des Buddhismus dreidimensionale Mandalas nachweisen. Ja, jedes Mandala ist (im Grunde genommen) ein dreidimensionales Gebilde.

Mandala-Palast

Der Mandalapalast steht auf einem gekreuzten
Vajra, der folgende Farben aufweist: Weiss im Osten, gelb im Süden, rot im Westen und grün im Norden. Der Palast wird von mehreren Kreisen eingefasst. Dazu gehört in der Regel ein Flammen-, ein Vajra- sowie ein Lotosblütenkreis. Bei Mandalas der höheren Tantraklassen ist zwischen die Lotosblüten und die Vajras zusätzlich ein Kreis mit acht Leichenstätten eingefügt.

Mandala als Makrokosmos

Der Buddhismus kennt mehrere Kosmologien, was jedoch keinen Widerspruch darstellt, denn – so Kalu Rinpoche: „Es gibt eine gewisse Relativität in der Weise, wie man die Welt erfährt. Das bedeutet, dass all die möglichen Erfahrungen jedes Wesens… auf die karmischen Neigungen und die Grade individueller Entwicklung gegründet sind. Deshalb ist auf einer relativen Ebene jede Kosmologie gültig. Auf einer letztendlichen Ebene ist keine Kosmologie absolut wahr. Sie kann nicht universell gültig sein, solange es Wesen in grundverschiedenen Situationen gibt.“

Buddhistisches Weltbild

Das buddhistische Weltbild setzt im Gegensatz zum Weltbild des europäischen Mittelalters nicht die Erde und die Menschen ins Zentrum, sondern kann als „theo-zentrisch“ bezeichnet werden: Die Götter und ihre Welten bilden die Mitte eines solchen Weltganzen, während die Menschen und anderen Lebewesen ein Dasein am Rande des Zentrums fristen.

Dieses Kosmosbild widerspiegelt sich in jedem Mandala, das jedoch nicht nur den äussern Kosmos, sondern auch den Mikrokosmos, den Menschen, symbolisiert. Es bestehen somit
zwischen Welt, Mandala und Mensch enge Beziehungen.

Kalachakra-Mandala

Die Symbolik und der Grundaufbau des Kalachakra Mandala weisen anderen Mandalas gegenüber Unterschiede auf: Die den Palast umfassenden Ringe sind im Kalachakra-Mandala Bestandteile des Kosmos – fünf grosse, das Universum tragende Scheiben, nämlich Raum, Luft, Wasser, Feuer und Erde -, während in vielen anderen Mandalas dieser direkte Bezug zum Universum nicht so offensichtlich ist. Auffallend – zumindest für Leute, die sich bereits mit dem tibetischen Buddhismus beschäftigt haben – ist auch die andere Farbgebung innerhalb dieses Mandala, nämlich schwarz im Osten, rot im Süden, gelb im Westen sowie weiss im Norden, während der Mitte grün und blau zugeordnet werden.

Im „Kalachakra-Tantra“ ist die Theorie der strukturellen Zusammenhänge und Entsprechungen aller Dinge und insbesondere von Universum, Mandala und menschlichem Körper besonders weit entwickelt. So entsprechen die Menschen in Zusammensetzung, Aufbau und „innerer Periodik“ exakt dem Kosmos, wie auch Korrelationen zwischen dem Menschen und dem Mandala sowie dem Mandala und dem Kosmos existieren.

Martin Brauen
24.04.1997

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